"Beim Fußball wäre es töricht, vor dem Gegner keinen Respekt zu haben"
Publizist Poliwoda diskutierte mit dem deutschen WM-Team über Werte
München (epd). Fairness im Fußball hat für den Publizisten und Hannover-96-Fan Sebastian Poliwoda (46) nichts mit Weichheit zu tun. "Beim Fußball wäre es töricht, vor dem Gegner keinen Respekt zu haben", sagt der stellvertretende Leiter der Akademie der Bayerischen Presse in einem epd-Interview. Poliwoda, der Germanistik, Philosophie und Journalistik studiert hat, diskutierte mit dem deutschen WM-Team über Werte: "So wie ich lebe, spiele ich auch Fußball." Christiane Ried sprach mit Poliwoda über das Foul gegen Michael Ballack und die Feindbilder der Fans.
epd: Sie haben ein Seminar über Werte vor der deutschen Fußballnationalmannschaft gehalten. Um was ging es genau?
Poliwoda: Die konkreten Fragen, die ich mit Teamchef Oliver Bierhoff ausgearbeitet habe, waren: "Was ist wirklich wichtig im Leben?" und "Wofür stehe ich als Person?". In zweiter Linie haben wir erörtert, "Wofür stehe ich als Fußballprofi?". Das waren die Leitfragen für meinen 45-minütigen Vortrag vor der A- und der U21-Nationalmannschaft.
epd: Also ging es in Ihrem Seminar eher um Fragen des Lebens und weniger um Fragen auf dem Fußballfeld?
Poliwoda: Nein, dass lässt sich nicht trennen. Um es verkürzt darzustellen: So wie ich lebe, spiele ich auch Fußball. Die Werte, die ich an den Tag lege, sind ja alle Ausdruck einer Haltung, die ich zum Leben habe. Fußball ist ein Teil dessen. In der Philosophie gibt es Wertesammlungen; einmal wurden 144 genannt. Da musste ich mich natürlich beschränken.
Ich dachte mir, wenn es die sieben Todsünden gibt, muss es auch sieben Lebendwerte oder -gebote geben. Selberdenken, Respekt, Fairness, Eigenverantwortung, Loyalität gegenüber meiner Mannschaft, Höflichkeit und Professionalität. Anhand der sieben Werte habe ich der Mannschaft erklärt, worum es im Leben gehen sollte, was wichtig ist. Dadurch sollte auch der Teamgeist geweckt werden und das Selbstverständnis "Ich bin Teil dieses Teams".
epd: Respekt, Fairplay, Höflichkeit - die Wirklichkeit auf dem Feld sieht aber oft anders aus. Beispiel Kevin-Prince Boateng, der Michael Ballack mit einem üblen Foul aus der WM befördert hat. Sind Werte denn nicht nur etwas für Weicheier?
Poliwoda: Werte haben ja zunächst einmal nichts mit Weichheit, Brutalität oder Aggressivität zu tun, sondern mit der Art und Weise, wie ich mein Leben führe. Beim Fußball wäre es töricht, vor dem Gegner keinen Respekt zu haben. Respekt kommt vom Lateinischen "respicere" - zurückblicken oder etwas im Blick haben. Wenn ich den Gegner im Blick habe, entsteht automatisch Respekt - keine Furcht oder Angst. Deshalb werde ich viel besser Fußball spielen, als wenn ich blind reingehe und etwa billigend eine Verletzung des Gegners in Kauf nehme.
Das Foul von Boateng an Ballack ist dafür ein gutes Beispiel. Boateng war in diesem Fall ethisch blind, weil er offensichtlich keine Chance hatte, den Ball zu erwischen. Trotzdem hat er die Verletzung billigend in Kauf genommen. Das hat mit Respekt nichts mehr zu tun.
epd: Boateng wird in sozialen Netzwerken wie studivz und facebook mit üblen Beschimpfungen zum Staatsfeind Nr. 1 erklärt. Er wird in der WM-Gruppenphase mit Ghana gegen Deutschland spielen. Sein Bruder Jerome dagegen steht im deutschen Kader. Wie kann sich die deutsche Mannschaft auf solch eine brisante Situation einstellen?
Poliwoda: So wie ich es einschätzen kann und so wie ich die Mannschaft kennengelernt habe, ist die Brisanz im Team viel geringer als in der Öffentlichkeit. Das hat auch mit der Reaktion von Michael Ballack zu tun als direkt Betroffenem. Keiner hätte ihm vorgeworfen, wenn er Boateng - überspitzt gesagt - gewürgt hätte. Umso überraschender fand ich seine souveräne Reaktion und die Fairness, die er an den Tag gelegt hat.
Früher hätte man so ein Verhalten Ritterlichkeit genannt. Er hatte keine Lust, nachzukarten, und das hätte auch nichts gebracht. Wenn man andere ständig verantwortlich macht für sein Schicksal, macht man sich zu einem Hilflosen und gibt den anderen eine gewisse Macht. Ballack hat das sehr vernünftig geregelt und sich ein neues Ziel für sein Leben überlegt - nämlich gesund zu werden. Je öfter er an Boateng denkt und ihm Böses wünscht, umso schlechter für ihn selbst.
epd: Die deutsche Mannschaft verliert mit Ballack ihren Kapitän und eine Führungsfigur. Philipp Lahm ist zwar ein erfahrener Spieler, aber der typische Leithammel ist er nicht. Wie geht eine so junge Mannschaft mit der Situation um?
Poliwoda: Man könnte von außen betrachtet sagen, wir haben einen Haufen Küken ohne Glucke. Aber ich habe bei meinem Vortrag festgestellt, dass das zwar alles junge Kerle sind, aber da sie ständig in der Öffentlichkeit und unter Beobachtung stehen, sind sie faktisch sehr viel älter als andere 22- oder 23-Jährige. Sie sind auch sehr viel nachdenklicher, als man es von einem 22-Jährigen erwarten würde.
Außerdem braucht das Team Entschlossenheit. Nicht denken: "Jetzt haben wir so viele Verletzte, wir rechnen mal mit dem Achtelfinale." Mit so einer Haltung kann man nichts reißen. Denn letztendlich entscheidet die Haltung darüber, ob ich bei so einem Turnier Erfolg habe. Das Gegenteil müssen sie denken: "Jetzt erst recht!" Zusammenhalten und gemeinsam reinhauen, das müssen sie.
epd: Sie meinen die Trotzreaktion, von der Teamchef Joachim Löw schon gesprochen hat?
Poliwoda: Ich denke nicht, dass es eine Trotzreaktion ist, sondern eine Bestärkung der Entschlossenheit. Ich bin überzeugt, dass diese Entschlossenheit die Mannschaft ausmacht.
epd: Ihr Seminar war im Herbst 2009, also wenige Monate vor Robert Enkes Selbstmord. Depressionen waren und sind immer noch ein Tabuthema, homosexuelle Spieler wollen sich weiterhin nicht outen. Beispiele, die zeigen, dass Werte, wie Sie sie propagieren, im Fußball längst noch nicht angekommen sind.
Poliwoda: Teils ja, teils nein. Bei meinem Vortrag ging es vorrangig darum: Oliver Bierhoff will nicht nur Profis, er will Persönlichkeiten. Grade weil ich als Nationalspieler in so einer starken Vorbildfunktion stehe und Millionen von Fans zu mir aufschauen, gerade deshalb muss ich wollen, als Person stimmiger und authentischer zu sein.
epd: Geht man ins Stadion, werden Spieler oft als schwule Sau beschimpft, farbigen Spielern begegnet man mit Affenrufen. Warum rennt der Fußball dem Zeitgeist so hinterher?
Poliwoda: Respekt ist fast schon etwas Altertümliches, etwas, das uns unsere Großmutter beigebracht hat oder haben sollte. Inzwischen sind wir im Jahr 2010. Die Kirchen - nicht erst seit der Missbrauchsdebatte - kommen bei den Menschen offensichtlich nicht an. Sie wären dafür prädestiniert, den Leuten zu vermitteln, was Respekt und Höflichkeit eigentlich bedeuten und wie sie das Miteinander beeinflussen. Die Kirchen fallen aus, die Schulen zum großen Teil auch. Nachdem die klassische Familie, wo drei Generationen unter einem Dach lebten, auseinandergebrochen ist - wer soll es einem denn beibringen oder gar vorleben?
epd: Aber warum ist der Wertemangel so konzentriert auf Fußball?
Poliwoda: Fußball ist in Deutschland Volkssport Nummer 1 und bewegt die Menschen. Hätten wir den Fußball nicht, würden sich die Leute vielleicht auf der Straße den Schädel einschlagen. Fansein lebt davon, klare Feindbilder zu haben. Solche Feindbilder entsprechen dabei keiner Wirklichkeit, tragen also relativ wenig Wahrheit in sich. Ausländer können dabei Feindbilder sein oder wenn ein Dortmunder Schalke hört, kriegt er so einen Hals, und wenn ein Hannover-96-Fan einen Braunschweiger sieht, kriegt er einen Blutrausch (lacht). Das wird immer so sein.
epd: Warum passt kein homosexueller Fußballer ins Bild? Im Volleyball oder Tennis ist Homosexualität schon längst etwas Normales.
Poliwoda: Fußball ist immer noch von einer klaren Hierarchie geprägt, es ist ein Sport mit einer gewissen Härte, bei dem der Körperkontakt zwischen Männern vorprogrammiert ist. Natürlich kein emotionaler-liebender Körperkontakt, sondern ein Kontakt mit kriegerischer Absicht.
epd: Ihre WM-Einschätzung für das DFB-Team?
Poliwoda: Mit der richtigen Haltung, mit der richtigen Entschlossenheit traue ich denen alles zu.
http://www.epd.de/bayern/bayern_index_76442.html