Der folgende Artikel aus der SZ stammt von Santiago Segurola, einem der renommiertesten Sportjournalisten Spaniens. Hier und da sind sicher die feuilletonistischen Pferde mit dem guten Santiago durchgegangen und man muss auch sonst nicht alle seine Thesen teilen. Aber aufschlussreich ist diese „Außenansicht“ allemal.
Der Kaiser ist schuld
Es war einmal ein Kaiserreich: Wie der deutsche Fußball von seinem Herrscher Franz Beckenbauer und vom FC Bayern München zerstört wurde.
Wer Spiele Deutschlands bei der EM besucht, ist über zwei Dinge überrascht: über die Leidenschaft seiner Fans und die Unsicherheit über das Schicksal der Nationalelf. Das ist der neueste Teil am deutschen Fußball: Er ist auf dem Terrain der Sterblichen angelangt. Bis zum Ende der Achtziger hatten deutsche Niederlagen etwas Anekdotisches. Sie hatten keine Auswirkungen auf den Blick, den das Land auf seine Elf hatte: Er blieb vertrauensvoll. Der Fußball verkörperte mit am besten die Effizienz, die perfekte Verarbeitung und die Vertrauenswürdigkeit der deutschen Produkte. Im Rest Europas führte dies zu einem ambivalenten Gefühl der Bewunderung und der Furcht vor einer Mannschaft, die nur sehr selten in Reichweite ihrer Rivalen zu sein schien.
Heute könnte man sagen, dass sich der deutsche Fußball humanisiert hat. Er gewinnt und verliert wie alle anderen. Er verliert sogar häufiger, als es normal wäre. Man mag es für liederlich halten, aus 2000 Kilometer Distanz über die Regression des deutschen Fußballs zu theoretisieren. Doch die Distanz macht es nicht unmöglich, einige allgemeine Züge einer Landschaft zu beobachten. Deutschlands letzter Weltmeistertitel fiel mit dem Mauerfall zusammen - und mit dem Ende eines Modells, das von beiden Deutschlands generell ein bemerkenswertes overacting abverlangte.
In der Nachkriegswelt fühlten sich beide Länder, BRD und DDR, in der Pflicht, ein Mandat zu erfüllen: um die moralische und wirtschaftliche Vorherrschaft zu kämpfen. Und in all diesen Dingen spielt der Sport eine relevante Rolle als (nicht unbedingt realer) Spiegel der Eroberungen eines Staates. All das war mit dem Mauerfall vorbei. Eine desaströse Prognose jener Epoche war, Deutschland als neue Weltmacht des Sports anzusehen. Die Realität war fast entgegengesetzt. Im besten Fall handelte es sich um ein seltsames Additionsergebnis: 1 + 1 = 1. Als die beiden Deutschlands nicht länger im Wettstreit miteinander lagen, wandte sich der Staat Wichtigerem zu, dem Aufbau der Ex-DDR etwa. Der Sport erhielt wieder eine bescheidene Rolle.
Von außen betrachtet, gibt es kein Land, das solche Chancen hat, im Fußball die Hegemonie zu erlangen. 80 Millionen Einwohner, große Städte, die besten Stadien, Siegertradition und die nicht zu verringernde Leidenschaft seiner Anhänger. Die Bundesliga hat den höchsten Zuschauerschnitt Europas. Es gibt kein Kriterium, das die Idee der deutschen Übermacht nicht begünstigen würde. Doch die Realität ist eine andere.
Es mag seltsam klingen: Viele europäische Fußballer waren enttäuscht, als Beckenbauer sich in der Verteidigung installierte. Überragend war dieser Fußballer, als er noch ein Mittelfeldspieler war, der für eine vibrierende, wundervollen Fußball spielende Mannschaft stand. Den Höhepunkt seines Prestiges erreichte der deutsche Fußball 1972, als Beckenbauer gerade als Libero debütiert, aber noch keine Kollateralschäden verursacht hatte.
Die neue Verortung Beckenbauers hatte nämlich Langzeit-Auswirkungen: Die Verteidigung wurde 15 Meter nach hinten geschoben, die Stürmer waren dadurch weit von ihnen entfernt, und die Mittelfeldspieler eher darum besorgt, die Verteidiger zu panzern, denn kreative Ideen zu entwickeln. Das Resultat war eine Verarmung des Spiels. Denn die Konsequenz war leicht zu erraten: Der Libero wurde von zwei Innenverteidigern sowie den beiden Außenverteidigern geschützt, die sowohl verteidigen und angreifen sollten. Carrileros werden sie in Spanien genannt, Gleisarbeiter, weil sie wie auf Schienen laufen. Für Johan Cruyff sind sie eines der größten Unglücke des Fußballs. Er hat Recht.
Alles was Deutschland tat, entwertete seinen Fußball, auch wenn die Resultate gut gewesen sein mögen. Nach Beckenbauer endeten die besten Mittelfeldspieler als bequeme Liberos: Matthäus, Stielike, Thon, Sammer. Das Spiel begann, sich um die Verteidigung herum zu drehen, nicht ums Mittelfeld. Der Libero begründete auch einen anderen deutschen Typus der Achtziger und Neunziger: den Panzer. Wir sprechen von einem Land, das zuvor mit Stürmern wie Seeler und Müller gespielt hatte.
Aber eine Mannschaft, die so in die Länge gezogen wurde, benötigte die einfache Lösung: den langen Ball auf einen Stürmer mit großer Zielfläche. Es tauchten Dieter Hoeneß, Hrubesch, Jancker, Bierhoff auf, eine ganze Rasse von Giganten - dazu da, den Ball zu halten, ihn zu köpfen und Fouls in Strafraumnähe zu schaffen. Das Spiel als solches interessierte nicht. Was 1972 eine blendende Mannschaft war, wurde zu einer hermetischen, mechanischen, schweren und hässlichen Elf.
Für den Niedergang des deutschen Fußballs gibt es noch einen zweiten Grund: die zerstörerische Rolle des FC Bayern München. Mitte der Siebziger errang Bayern die Vorherrschaft, zusammen mit einer Mannschaft namens Borussia Mönchengladbach, einer Elf, die unendlich attraktiver und verwegener war. Der FC Bayern setzte sich aufgrund seines wirtschaftlichen Potentials und seiner Titel durch. Dreimal hintereinander gewannen die Bayern in den Siebzigern den Europapokal der Landesmeister. Nie war es verdient. Dass der FC Bayern eine dominierende Rolle erlangte, ist nicht per se schlecht.
Das Problem ist, dass der FC Bayern in Deutschland kaum Wettbewerb zulässt. Wenn möglich, eliminiert er den Wettbewerb. Die vergangenen 15 Jahre sind mit Beispielen getrüffelt. Immer, wenn die Bayern sich in Gefahr sahen, holten sie die besten Spieler ihrer Rivalen und warfen sie sofort in eine Periode des Neuaufbaus. Doch die Aufgabe eines großen Clubs ist es nicht, Wettbewerb zu eliminieren, sondern, ihn zu fördern.
In Spanien steht die Autorität von Real Madrid und des CF Barcelona außerhalb jeder Diskussion. Aber sechs Stammspieler von Barça sind Eigengewächse: Valdés, Puyol, Xavi, Iniesta, Messi und Bojan. Mehr als 50 Spieler der spanischen Liga kommen aus dem Nachwuchs von Real. Kann Bayern Dasselbe von sich behaupten? Nein. In den vergangenen zehn Jahren hat der FC Bayern nur einen genießbaren Spieler produziert: Schweinsteiger, auch er nicht von einem anderen Stern. Dem Club fiel es einfacher, das Talent des deutschen Fußballs auszudünnen.
Deutschland spürt nun die Effekte von Maßnahmen, die vor langer Zeit ergriffen wurden. Nun will die Nationalelf die Anerkennung der europäischen Fans erlangen. Das ist nicht einfach. Sie mag die EM sogar gewinnen, doch es fehlen ihr Spieler, die mit den Großen der Welt verschmolzen werden könnten - mit den Großen ihrer eigenen Vergangenheit.
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