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"Punktabzug öffnet Ultras Tür und Tor"
München - Drohen dem deutschen Fußball nach den jüngsten Fan-Ausschreitungen italienische Verhältnisse?
Fan-Forscher Gunter A. Pilz hat in Hannober 1985 ein Fanprojekt mit initiiert
Vorschau Fan-Forscher Gunter A. Pilz hat in Hannober 1985 ein Fanprojekt mit initiiert
Nein, sagt der Fan-Forscher Gunter A. Pilz.
Der renommierte Experte arbeitet als Honorarprofessor am Institut für Sportwissenschaft der Universiät Hannover mit dem Schwerpunkt "Sport und Gewalt".
Er bezeichnet die neue Form gewaltbereiter Fans als "Hooltras".
Im Interview der Woche spricht der 63-jährige, der auch in einer Expertenkommision der Uefa sitzt, über die deutschen Konzepte, mögliche Maßnahmen gegen Ultras, Unterschiede zwischen Ost- und West-Fans und die Selbstreinigung der Fangruppierungen.
Sport1: Hat der deutsche Fußball nach den Vorkommnissen der letzten Wochen ein Fan-Problem?
Gunter A. Pilz: Das ist mir zu plakativ. Es gibt im deutschen Fußball ein nationales Konzept "Sport und Sicherheit", beim Deutschen Fußball-Bund eine Kommission "Sicherheit und Prävention" und mehrere Arbeitsgruppen etwa über Fandialog. Diese alle versuchen, derartige Probleme wie in den letzten Wochen gemeinsam zu lösen. Man darf aber auch nicht alle Fans in einen Topf werfen.
Sport1: Sind die Ereignisse in Frankfurt oder Köln denn nur eine Momentaufnahme?
Pilz: Das ist nichts Neues und haben wir zuletzt auch schon Stuttgart, Hannover und Leverkusen beobachtet. Es gibt innerhalb der Fanszene, vor allem bei den Ultras, eine Gruppe, die noch eine Minderheit ist, aber meines Erachtens zunimmt. Diese will mehr als nur Support und fällt entsprechend negativ auf. Das muss man Ernst nehmen, vor allem bei Auswärtsspielen.
Sport1: Warum kommt es gerade in Gästeblocks zu Ausschreitungen?
Pilz: Zum einen, weil die Fans wissen, dass sie mit derartigen Aktionen im eigenen Stadion ihrem Verein schaden würden. Zum anderen ist es eine Provokation der gegnerischen Fans, eine Art territoriale Eroberung, um die heimischen Fans und Ultras zu reizen.
Sport1: Was sind Ultras?
Pilz: Zunächst einmal ist es eine Gruppe, die den Fußball in seinen Traditionen und sozialen Wurzeln bewahren möchte. Die Anhänger sind zum Beispiel gegen Vermarktungs- und Kommerzialisierungstendenzen. Eigentlich sind sie ein positives und kreatives Element, das für die Stimmung - etwa Fanchoreografien - in den Stadien sorgt.
Sport1: Woher kommt dann die zunehmende Gewaltbereitschaft?
Pilz: Innerhalb dieser Gruppierungen gibt es Abspaltungen, die wie sie selbst sagen, für die sportliche Betätigung auf der Straße zuständig sind. Das sind sehr junge Leute zwischen 13 und 16 Jahren, die aus dieser normalen Supporter-Balance ausscheren und ein großes Problem darstellen. Sie haben zwar einen hohen Bezug zum Fußball und eine enge Bindung zum Verein, aber sie sind sehr gewaltbereit. Sie wollen auffallen und Randale übt eine Faszination aus. Ich nenne Sie Hooltras, weil sie weder Hooligans noch Ultras sind.
Sport1: Ist es eine homogene oder heterogene Gruppe?
Pilz: Es ist eine heterogene Gruppe und das ist das große Problem. Die Mitglieder decken ein breites Spektrum ab und wollen sehr viel Macht und Einfluss nehmen. Die Gruppe ist nach allen Seiten offen, toleriert alles von rechts bis links sowie von friedlich bis gewaltbereit.
Sport1: Und wie kommt es zur Eskalation?
Pilz: Die Mehrheit ist besonnen, aber schreitet nicht ein, wenn Randale gemacht wird. Ultras haben ein ausgeprägtes Feindbild und das ist die Polizei. Und beim Eingriff der Ordnungskräfte wird sich solidarisiert und alle zusammen, ob gewaltbereit oder friedlich, bilden eine Kampfgemeinschaft.
Sport1: Ist es daher auch schwer, für die Sicherheitskräfte die geeigneten Mittel anzuwenden?
Pilz: Es ist nicht leicht, aber die zuletzt ergriffenen Maßnahmen waren sinnvoll. Ultras wollen ja auch Rückkopplung vom Verein, sei es in Form von Vergünstigungen etwa bei Auswärtsfahrten. Und hier müssen die Klubs ansetzen und ihre Fans auffordern, sich auch entsprechend zu verhalten. Außerdem müssen die Ultras mehr als bisher gezwungen werden, im Sinne der Selbstreinigung und –kontrolle Randale zu unterbinden und den Tätern auch mit Ausschluss zu drohen.
Sport1: Wie sieht es mit Stadionverboten aus?
Pilz: Im nationalen Konzept "Sport und Sicherheit" gibt es eine ausgewogene Balance zwischen Repression und Prävention. Und wer es nicht begreift, muss mit einer knallharten Bestrafung rechnen. Aber lebenslange Stadionverbote sind Schnellschüsse und zeigen keine abschreckende Wirkung wie uns die Forschung in der Jugendkriminalität gezeigt hat. Die bisherige Höchststrafe von drei Jahren ist ausreichend.
Sport1: Der DFB hat auch die Möglichkeit etwa bei rassistischen Äußerungen eine Geldstrafe und oder Punktabzug zu verhängen. Was halten Sie davon?
Pilz: Da sollte man die Kirche im Dorf lassen. Punktabzug halte ich für völlig fatal, weil man jeder Manipulation Tür und Tor öffnet. Je nach Spielstand zünden die Ultras dann Bengalos oder rufen rassistische Sprüche und schon wird das Spiel abgebrochen. Wenn die Statuten der Fifa und Uefa aber richtig angewendet werden, verfehlen sie ihre Wirkung nicht.
Sport1: Reichen diese Maßnahmen?
Pilz: Ich bin optimistisch, dass alle Beteiligten dieses Problem in den Griff bekommen. Es ist aber wichtig, dass auch die Polizei deeskalierend handelt. Wichtig ist die Kommunikation. Es gibt in Hannover ein wunderbares Modell. Hier werden so genannte Konfliktmanager eingesetzt.
Sport1: Wie funktioniert das?
Pilz: Das sind speziell geschulte Polizisten in Zivil, die bei Ausschreitungen den Dialog mit den Fans in den Blöcken suchen. Und erst wenn diese Gespräche erfolglos bleiben, geht eine Hundertschaft massiv gegen die Störer vor. Die Erfahrung zeigt, dass in 80 Prozent der Fälle nach den Gesprächen ein weiterer Polizeieinsatz nicht mehr nötig war. Gewalt darf sich nicht mit Gegengewalt aufschaukeln, auch wenn die Fans gerade abseits der Stadien gewaltbereiter geworden sind. Wichtiger sind die präventiven Maßnahmen wie der gemeinsame Dialog und besonnene Reaktion.
Sport1: Teilen Sie die Befürchtungen, dass im deutschen Fußball italienische Verhältnisse drohen?
Pilz: Das ist absurdes Geschwätz und ein Horrorszenario. Italienische Verhältnisse können wir in Deutschland gar nicht haben, weil wir der dortige Fußballverband und die Politik jahrzehntelange weggeschaut und die eingeführten Gesetzte nur halbherzig kontrolliert hat.
Sport1: Gibt es einen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und zunehmender Gewaltbereitschaft?
Pilz: Ja, das haben unsere Studien belegt. Es gibt auch ein Ost-West-Gefälle, weil die Lebens- und Zukunftsperspektiven in den Neuen Bundesländern eklatant schlechter sind und sich der Frust in Gewalt entlädt. Für viele Ultras ist ein Gefängnisaufenthalt sogar die bessere Perspektive als das bisherige Leben.
Das Gespräch führte Michael Schulz