Aus Notbremse, Nr. 54/2010
„Und mit der ölf: Bändura“
Vor 50 Jahren übernimmt Werner Seide das Mikrofon im Regieturm des Niedersachsenstadions. Zum Jubiläum vier Spielszenen plus Nachspielzeit.
Grand-Funk-Geschrammel oder Keine Chance gegen Cordalis
Aus dem Nichts hasten ein Hütchen und eine riesengroße Hornbrille an Ecki und mir vorbei. Kopfbedeckung und Sehhilfe gehören zu einem drahtig-schmächtigen Mann mittleren Alters. Krawatte sitzt perfekt, Hosenfalte frisch gebügelt, Schuhe gewienert.
Hut, Brille und Mann nehmen Kurs auf das Niedersachsenstadion – kein Zweifel, companero, das muss er sein. Werner Seide. Der Werner Seide. Von Anbeginn der Zeit Herrscher im Regieturm und Meister des Mikrophons. Wie oft schon haben wir glückselig oder verzweifelt seiner Stimme gelauscht, wenn er Aufstellungen, Auswechslungen, Tore und Gegentore ansagt. Wobei Werner Seide nichts ansagt oder durchsagt, Werner Seide verkündet. Sein Wort ist Gesetz, wie im Block so auf den Rängen.
Wie Herr Seide sind auch wir vorschriftsmäßig gekleidet. Fransenstiefel, knallenge schwarze Cordjeans, Holzfällerhemd, Parka mit Ché-Guevara-Sticker. Und dazu eine Matte bis zu den Schulterblättern.
Die Haare wachsen auch auf dem Platz. In Hannover schlägt der von Tschik Čajkovski als „neues Beckenbauer“ identifizierte Peter Anders erste Breschen in die Pomadefront. Jünter Netzer betreibt in Gladbach eine Disco, Jungstar Paul Breitner spielt wie George Best mit hängenden Stutzen.
Willy Brandt verspricht mehr Demokratie. Über Vietnam regnen Napalmbomben, sowjetische Panzer rasseln durch Prag. Die PLO knallt in München israelische Sportler ab, in Chiles Estadio Nacional wüten Pinochets Folterknechte. Nelson Mandela sitzt schon seit über einem Jahrzehnt im Knast.
In der Bundesliga dominieren Korruption und Manipulation, die Spiele werden reihenweise verschoben und mitten im Sumpf blüht die Nationalmannschaft in nie gesehener Farbenpracht. Gerd Schröder ist Vorsitzender des Juso-Bezirks Hannover, systemüberwindende Reformen sind angesagt. Theoretisch. Herbert Schmalstieg bereitet seine Wahl zum weltweit jüngsten Oberbürgermeister aller Zeiten vor und behält infolgedessen mehr das Praktische im Auge.
Die WM-Modernisierungsarbeiten im Niedersachsenstadion laufen auf vollen Touren, aber unser Lieblingsverein befindet sich auf einem absteigenden Ast. Ein Wunder rettet 96, doch Wunder passieren entgegen der Auffassung von Lena-Vorgängerin Katja Ebstein nicht immer wieder und schon gar nicht jede Saison. Wir ahnen: Uns steht ein einziges Gekrökel und Gewürge bevor, das kann nicht gut ausgehen.
In unseren Köpfen herrscht ein Riesendurcheinander, auf The Who jedoch ist Verlass. Kein Konzert, bei dem die Gitarren nicht verschrottet werden. So ganz genau wissen die Jungs aus London allerdings auch nicht, wo es langgehen soll. Roger Daltrey singt:
I asked Bobby Dylan I asked the Beatles I asked Timothy Leary But he couldn’t help me either They call me the seeker
Trotz vieler Unwägbarkeiten lässt sich der Fortschritt nicht aufhalten. So wird nach hoch emotionalisierten Auseinandersetzungen auf dem Schulhof der Alfelder Penne eine Raucherecke eingerichtet. Eine schwere Niederlage des Establishments, ein großer Erfolg der unabhängigen Schülerbewegung.
Unser Zug erreicht wie immer kurz vor 14 Uhr den Hauptbahnhof, die Typen aus Hildesheim, Celle und Nienburg sind schon da oder trudeln gerade ein. Traditionell machen wir auf dem Weg zum Stadion an einem Flipper Station und demonstrieren, dass die wahren Pinball Wizards im Leinebergland zu Hause sind. Klappt auch meistens.
Ecki und ich hängen irgendwo in Stadionnähe rum. Mal hier, mal da. Wir hängen rum und gucken, ob irgendwo ein paar Mädels rumhängen, die nach Jungs gucken, die rumhängen. Diese Rumhängguckerei ist völliger Quatsch und wir wissen das auch. Denn es ist so wie in all den Jahren zuvor, auch 73/74 hängen kaum Susis, Daggis oder Monis vorm Stadion rum.
Trotzdem kommt es hin und wieder zu bedeutenden Begegnungen. Wie heute zum Beispiel. Ecki fängt sich als Erster, sagt geistesgegenwärtig nicht „Ey, Alter“, sondern wünscht Herrn Seide einen guten Tag. Eine phänomenale Eröffnung. Herr Seide stutzt. Nein, er verlangsamt seine Schritte nicht, er stutzt schnellen Schrittes.
„Was ist los, was wollt ihr?“ Irre. Wahnsinn. Waaahnsinn. Werner Seide beachtet uns, mehr noch, hat uns gar eine Frage gestellt. Jetzt sind wir gefordert. Gut, erstmal schnell die Kippen wegfeuern, das bringt mindestens noch eine Zehntelsekunde.
Wir haben unterdessen den Seide-Schritt aufgenommen, aber eingefallen ist uns immer noch nichts. Herrn Seides Gesichtsausdruck beginnt allmählich ins Ungehaltene zu changieren. „Na?“ Da küsst mich endlich die Muse, hat ja lange genug gedauert. „Herr Seide, es ist wegen der Musik.“ „Was ist mit der Musik?“ „Na ja, Hannover ist doch eine weltoffene Stadt, Messe und so. Könnten Sie da nicht mal was aus Amerika spielen?“ Immerhin seien die Amis ja auch unsere wichtigsten Verbündeten.
Herr Seide guckt wie eine Makramee-Eule. In diesem Moment ist klar zu erkennen, dass unser Stadionsprecher nicht einmal ahnt, wie sehr er die Kurve jeden Heimspielsonnabend peinigt. Die schöne Maid feiert ständig eine Fiesta Mexicana, weitere Party-Stammgäste: Jürgen Markus, Chris Roberts, Costa Cordalis und der gegenwärtige König von Mallorca. Es ist nicht zum Aushalten und alles andere als ein Zufall, dass montags in den HNO-Praxen jede Menge Hörstürze zu behandeln sind.
Einige von uns vertreten gar die Auffassung, dass Herr Seide das Musikprogramm unter sadistischen Gesichtspunkten zusammenstellt. Doch diese Theorie wurde soeben mit einem einzigen Blick in den Grundmauern erschüttert. Nix Sadismus. Er weiß es einfach nicht besser, das ist die schlichte Wahrheit.
Diese Erkenntnis wird akustisch gleich noch einmal bestätigt. Werner Seide hält nämlich nun doch für einen kurzen Moment inne, schüttelt den Kopf und sagt: „Elvis Presley wird im Niedersachsenstadion nicht gespielt.“
Eine hammerharte Ansage. Nein, Verkündigung. Rrrumms. Okay, aber Aufgeben gibt es nicht. Mühsam rappele ich mich wieder hoch und leite einen Konter ein. Von Elvis sei doch gar nicht die Rede gewesen, den wolle sowieso keiner mehr hören, der sei schon seit mindestens zehn Jahren quasi tot. Aber da gebe es zum Beispiel Grand Funk Railroad, die haben gerade eine Langspielplatte mit dem Titel „Survival“ herausgebracht. Das sei ein programmatisches Motto, gültig in gewisser Weise doch auch für 96.
Nichts zu machen. Absolut nichts. Der Stadionsprecher lässt mich ins Leere laufen und ich stehe doof da.
Ecki haut sich rein und erläutert die Vorzüge einer aufstrebenden englischen Musikantengruppe namens Pink Floyd. Die kennt Herr Seide aber auch nicht und mit Dark Side Of The Moon kann er rein gar nichts anfangen.
Jetzt spielt Ecki sein Trumpf-As aus, Pink Floyd habe in „Fearless“ die Hymne „You’ll never walk alone“ eingebaut und so dem Kop ein Denkmal gebaut. Da sei doch ein klarer Fußballbezug erkennbar und mindestens dieses Stück würde doch ganz wunderbar auch ins Niedersachsenstadion passen.
Doch den Schlussteil von Eckis Kurzreferat hat Herr Seide wohl schon gar nicht mehr zur Kenntnis genommen, er wünscht uns nun seinerseits einen guten Tag und verschwindet im Regieturm.
Ecki behauptet sofort und noch Jahre später, ich hätte die ganze Situation versemmelt mit meinem blöden Gequatsche über dieses Grand-Funk-Geschrammel. DAS wolle wirklich keiner hören, da könne er Werner Seide gut verstehen. Mit Pink Floyd habe er dann ja gar keine echte Chance mehr gehabt. Scheiße, ey. Ecki hat echt keine Ahnung von guter Stadionmucke.
Na schön, wir rauchen erst mal eine, hängen noch ein wenig rum und bereiten uns auf Costa Cordalis vor.
Kaan Döllmer
Reinhard Hesse wird 1956 in Hannover geboren, 2004 gibt er viel zu früh den Löffel ab. Der Redenschreiber und Berater von Bundeskanzler Gerhard Schröder treibt sich überall in der Republik und auf dem Globus rum, jenem „haarsträubenden Phänomen namens Hannover 96“ jedoch ist er stets und überall treu ergeben. „Mag die Karriere im Exil rasanter vorangehen, das Liebesleben mehr Abwechslung bieten – die Bindung an seinen Fußballverein wird der Auswanderer nicht los. (…) Der Exilierte vergisst die einstigen Nachbarn und Freunde, die Topographie der Heimatstadt verblasst, doch nie wird ihm sein Klub gleichgültig werden.“
Reinhard Hesse schreibt einige sehr lesenswerte 96-Texte, in seinem Langzeitgedächtnis hat Werner Seide einen Stammplatz: „In jenen Jahren, da unsere Begeisterung entflammte, hielt sich 96 im Bundesliga-Mittelfeld, lieferte den Großen der Liga große Spiele, vor allem daheim im Niedersachsenstadion, wo Stadionsprecher Werner Seide die Mannschaftsaufstellungen unverwechselbar ‚Hannöversch’ intonierte: ‚Staahnwedel, Bohnsäck, Nix und mit der Nummer ölf: Bändura!’“
So ist das, Werner Seide spricht raanstes Hannöversch.
Allerdings drängt sich eine Frage auf bzw. gibt es ein Problem zu lösen: Wieso glaubt eigentlich der Rest der Republik, in Hannover werde das reinste Hochdeutsch überhaupt gesprochen? Wo doch Millionen und Abermillionen Gästefans aus der Palz, Minga, Nemberch, Kölle und den Wojewodschaften des Ruhrgebiets unseren Werner laut und kläör vernommen haben?
Keine Ahnung. Das Rätsel muss einstweilen ungelöst bleiben, zumal die Dinge noch komplizierter liegen. Denn Werner Seide ist nämlich gar kein Sohn Hannovers und stammt auch nicht aus dem Umland. Unser Stadionsprecher ist gebürtiger Brandenburger, in Schlesien aufgewachsen und kommt erst 1949 äönne Laane.
Als Preuße, so ist zu vermuten, setzt Werner Seide sich zackzack mit dem Idiom seiner neuen Heimat auseinander – und lernt blitzschnell, er ist ja schließlich kaan Döllmer. Am Ende des Intensivkurses in Linden kann Lehrer Seide den Merksatz „Mit baad’n Baan’n innen Hillshaama Wäössaaama“ unfallfrei aufsagen.
Ja gut, das ist jetzt nur ne Hypothese, sach ich ma. Aber eine brauchbare. Jedenfalls ist damit der Weg frei zum Regieturm, der bald zu Werner ihn sein Regieturm werden sollte.
Die Revue ist vorbei
4:2 – aus, aus, aus. Doch es geht noch weiter. Teile des Publikums sind wegen verschiedener Fouls und Fehlentscheidungen auch nach dem Schlusspfiff noch etwas ungehalten. In den Katakomben geht es ebenfalls hoch her, da kloppen sich die Spieler. Vorneweg Major Puskas. Der Wunderspieler prüft, ob denn der Schädel von Pinheiro härter ist als eine Flasche.
Der Stadionsprecher – in der Schweiz auch Speaker genannt – reagiert prompt: „Polizei und Heerespolizei sofort in die Umkleideräume!“ Diese gut gemeinte Ansage wird jedoch auf den Rängen missverstanden oder jedenfalls nicht angemessen gewürdigt. Die Leute beruhigen sich nicht, sondern verlassen ihre Plätze, um den Platz zu stürmen.
Dies wiederum findet der Speaker überhaupt nicht in Ordnung. Nachdem seine Drohungen nicht gefruchtet haben, setzt er jetzt auf Vernunft und greift zu einer kleinen Notlüge: „Gehen Sie doch nach Hause, die Revue ist vorbei, es gibt nichts mehr zu sehen.“
Ja, das WM-Viertelfinale im Juni 1954 zwischen Ungarn und Brasilien ist schon von hohem Erinnerungswert. Genau dieses Spiel hat vermutlich der Autor des Wikipedia-Artikels „Stadionsprecher“ vor Augen bzw. in den Ohren als er den fulminanten Satz absondert: „Manchmal versucht der Stadionsprecher auch, durch deeskalierende Durchsagen Ausschreitungen zu verhindern.“
Während der Schweizer Kollege in der Disziplin „Deeskalation“ doch einige Defizite offenbart, ist Werner Seide ein ausgezeichneter Deeskalateur. Das zeigt sich zum Beispiel am 22. Dezember 1984 im Pokalachtelfinale gegen Schalke. Dieter Schatzschneider spielt auf der falschen Seite in Blau-Weiß. 13 Minuten vor Schluss macht Fred Schaub trotzdem das 1:0. Da ist Feuer unterm Dach, vor lauter Begeisterung und passend zur Jahreszeit werden Wunderkerzen angezündet.
An sich ein schönes Bild, unser Speaker Werner Seide jedoch erkennt sofort die lauernde Gefahr: „Bitte brennen Sie unser Stadion nicht ab, wir brauchen es noch für die nächste Runde gegen Bayern München.“ Jawoll, so geht das, so wird richtig deeskaliert. Selbstverständlich kommen wir der Bitte nach und brennen unser Stadion nicht ab.
Ein weites Feld
Mit dem Deeskalieren allein ist es aber nicht getan. Stadionsprecher, das ist ein Multifunktionsjob mit sehr unterschiedlichen, aber stets verantwortungsvollen und klar definierten Aufgabenbereichen. So sieht sich Norbert Dickel von Borussia Dortmund keineswegs als „Bespaßer der Südtribüne“, sondern als „Bindeglied zwischen Verein und Fans“.
Als Bindeglied hat Dickel jede Menge zu tun, unter anderem sind die Werbeblöcke zu moderieren. Und das wiederum kann allerdings schon mal Ärger mit den Fans einbringen. So löst ein Halbzeitpausen-Auftritt von Heidi Klum eher gemischte Reaktionen aus. Später wird Sprecher Dickel zu der misslichen Angelegenheit vom BVB-Fanzine „Die Kirsche“ interviewt:
„Frage: Und die Nummer mit Heidi Klum? Dickel: Germany’s next Top-Model, Samstagsspiel und drei Tage vorher hör ich: Norbert, Du brauchst Dir um das Halbzeitprogramm überhaupt keine Gedanken zu machen, das ist erledigt. Das macht sportfive. Wir wollen den Namen Signal-Iduna-Park noch weiter penetrieren und der Namensgeber möchte das gern. Jetzt werde ich verantwortlich gemacht und beschimpft, kann aber gar nichts dafür. Meinst Du, das war für mich ein Spaß?“
Bindeglied – Heidi Klum – penetrieren – kein Spaß. Irgendwie läuft hier gerade etwas schwer aus dem Ruder. Aber Norbert Dickel kann ja nichts dafür, deshalb schnell zurück zu Werner Seide.
Der ist schon lange vor Dickel für Werbeblöcke verantwortlich, hat sich darüber aber öffentlich nie beschwert. Nein, seine Kritik kommt ganz leicht daher, man muss schon sehr genau hinhören. So sind ihm Levis Jeans offenbar nicht ganz geheuer, mit „Luis Tschiens“ bringt er eine gewisse Distanz zum Ausdruck – und zwar ohne dabei die Interessen des werbetreibenden Sponsors zu missachten. Und mit den Fans verdirbt er es sich schon mal gar nicht, wir lieben die nonchalant vorgetragenen Produktinformationen. Siehst Du Nobby, so wird das gemacht.
Aber ein Stadionsprecher ist nicht nur Bindeglied und Deeskalateur, er hat noch weitere Tätigkeitsfelder zu beackern. Hier eine kleine Auswahl:
Mother’s Little Helper: Im Laufe seines Sprecherlebens fordert Werner Seide exakt 3.487 werdende Väter auf, sich sofort ins Krankenhaus zu begeben oder wenigstens anzurufen, es sei soweit.
Kindergärtner: Können die Blagen dann endlich laufen, gehen sie im Stadion prompt verloren. Aber keine Bange, alle Bernds, Peters und später Kevins werden gefunden und können am Regieturm von ihren nervös umherstreunenden Papas abgeholt werden.
Parkplatzanweiser: Kein Spieltag, an dem nicht mindestens ein Auto irgendeine wichtige Ein-, Aus- oder Zufahrt blockiert. Es ist am besten, die Karre sofort wegzufahren, sonst wird sie abgeschleppt. Kostenpflichtig, mahnt Werner Seide. Die Marcuse-Fans unter uns sehen darin ein geradezu klassisches Exempel für das Theorem von der repressiven Toleranz. Ja gut.
Ballspenden-Danksager: Ein Graubereich, hier überlappen sich die Interessen der werbetreibenden Wirtschaft mit denen des Vereins. Überdurchschnittlich häufig spenden ein Opel-Vertragshändler und ein Polsterhaus den Spielball. Auch die Jugendabteilung wird gelegentlich bedacht. Werner Seide würdigt die Unterstützung des Vereins ohne jeden Unterton korrekt und präzise.
Big Spender: Im „Bundesliga Kurier“ sind Losnummern abgedruckt. Die Auslosung erfolgt unter Ausschluss des Rechtsweges in der Halbzeitpause. Unmittelbar danach kann der Gewinn – meistens ein Essengutschein für zwei Personen beim Jugo – abgeholt werden. Wo? Im Regieturm natürlich, wo denn wohl sonst?
Einheizer: Ist Werner Seide nicht. Alles – aber kein Einheizer. Ganz und gar unvorstellbar, dass er beispielsweise Torverkündigungen eventisieren und Raum lassen würde für dieses spielstandsunabhängige hohle Nuuuuulll-Gebölke. Mal für einen kurzen Moment angenommen, Werner Seide agierte heute noch und sähe sich mit den Usancen der Zeit konfrontiert. Er würde die Trefferzahl für Hannover 96 so oft wiederholen, bis die Kurve mit der korrekten Trefferzahl für die Gastmannschaft antwortet. Von wegen Nuuuuulll. Nicht mit ihm. In seinem Regieturm geht es korrekt und fair zu.
Werner Seide versäumt von 1960 bis 1987 kein einziges Spiel. Reichtümer bringt das nicht ein, er ist ehrenamtlich unterwegs. Vielleicht ist es gut, dass irgendwann auch die Zeit der Legenden vorbei ist. Die neue Zeit mit ihren unsäglichen Halbzeitspielen, Karacho-Tachos und dem ewigen Präsentieren von Eckbällen, Ballbesitzquoten und sonstigem Unfug – das gefällt ihm nicht, jede Wette.
Der Abschiedsschmerz wird gedämpft durch den Umstand, dass in einem anderen Turm ein junger Mann die Arbeit aufnimmt und bald von sich reden macht. Frank Scharnberg, der Sülzer vom Pferdeturm, interpretiert den Sprecher-Job auf ganz neue, in Hannover so noch nicht gehörte Weise. Vom Regieturm zum Pferdeturm – Hannovers zwei Türme sind real und zugleich viel phantastischer als Tolkiens Bauwerke.
No Pain No Gain
Wer Werner Seide je gehört hat, weiß: Es bereitete ihm eine geradezu physische Qual, Gegentore verkünden zu müssen. Und er musste im Laufe der Jahrzehnte verdammt viele Gegentore verkünden.
Doch wenn unser Stadionsprecher in unterdrücktem Schmerz und sportlich vorbildlicher Haltung ein 1:2 in der 87. Minute verkündete, so hatte das immer auch etwas Tröstendes. Wir wussten dann, wir sind nicht allein. Da oben im Regieturm, da gibt es einen, der uns genau versteht.
Auch wenn er von Grand Funk und Pink Floyd nichts verstanden hat.
Quellen
Mein Gedächtnis.
Hardy Grüne, Thorsten Schmidt, Frank Willig: Rote Liebe. Die Geschichte von Hannover 96. Göttingen 2009. Verlag Die Werkstatt.
Reinhard Hesse: …bis in die Kreisklasse. Kann man sich seinen Verein aussuchen? Der Fan in der Diaspora. In: Wolfgang Frank: Nach dem Spiel ist vor dem Spiel. Die wunderbare Welt des Fußballs. Reinbek 1996. Rowohlt.
Das Internet. Im Netz steht viel dummes Zeug, Ausnahme ist das offizielle Forum von Hannover 96. Für Hinweise und Anregungen ein schwarz-weiß-grünes sowie rotes Dankeschön an: Alter96er, einwerfer, Herr Rossi, Pessimist, Pralino, RoterKlaus, tauri, Uwe und Wurzel.
_________________ „Dass wir den Aufstieg nicht schaffen, wird nicht passieren." Martin Kind
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