nocci96, vielen Dank für die Verlinkung des Videos.
Da ich selbst aus der Wirtschaft komme, ist mir die Weltanschauung von Martin Kind nicht fremd. Ebenso wenig wie die dazugehörigen Vokabeln, die er nutzt. Sie sind auch mein tägliches Brot - äh ich meine natürlich „Ressource“. Ich kenne sogar viele Geschäftsführer, die selbst in familiären Zusammenhängen von Ziel- und Sollzahlen sprechen. Ohne Scherz

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Kundenorientierung, Markenentwicklung, Unternehmensauftritt…alles ganz alltägliche Dinge, ohne die unsere heutige, kapitalistische Gesellschaft nicht mehr existieren könnte. Die Wirtschaft beherrscht das System - auch die Politik. Das ist keine neue Erkenntnis, aber natürlich sind Fußballvereine große Wirtschaftsunternehmen mit hohem Kapitalvolumen und Transaktionen. Deswegen ist es heute gar nicht mehr möglich, einen Fußballverein ohne diese unternehmerischen Strukturen zu verwalten. Das Unternehmen muss entsprechend seriös geführt werden. Selbstverständlich wird der Fußball (also die erbrachte Leistung) zum Produkt. Je erfolgreicher, desto attraktiver. Je attraktiver, desto mehr Ticketverkäufe, Fanartikelverkäufe, Sponsoren und Sekundäreinnahmen aus anderen Wettbewerben. Nur so sind reiche Vereine zu dem geworden, was sie derzeit sind (ich nehme an dieser Stelle die Vereine heraus, die allein durch einen Mäzen oder ein investitionsfreudiges Unternehmen nach Oben gesteuert worden sind). Das ist überall in der Vereinslandschaft so, mit dem großen Unterschied, dass das nur ganz selten so deutlich nach Außen kommuniziert wird. Da wird lieber von purer Leidenschaft und Emotion gesprochen, von Traditionstrikots oder Jubiläumsausgaben. Vom ewigen Zusammenhalt in der Kurve und den Erinnerungen an alte Zeiten. Da werden Retroschals präsentiert, alte Logos auf T-Shirts gedruckt. Alles aus purer Liebe zur eigenen Tradition. Eben ganz so, wie die Zielgruppe es eben möchte.
Unser Martin ist da etwas anders. Er spricht öffentlich von seiner Welt. Er nennt uns direkt Kunden und unser geliebtes Vereinswappen gleich Marke, sogar der Sportverein ist gar kein Verein, sondern ein Unternehmen. Und wenn er formal doch noch einer ist, dann wenigstens nicht mehr lange. Wettbewerbsfähigkeit nennt er das. Der Fußball ist das Produkt und Spieler sind wohlmöglich Humankapital. Alles vor dieser Zeit war kein seriös geführtes Unternehmen, sondern ein emotional und strukturell schwankendes und instabiles Konstrukt, das immer mal wieder kurz vor dem absoluten Abgrund stand. Jetzt nicht mehr. So ist unser Martin.
Martin Kind möchte aktive Zuschauer, die sich an die vorgegebenen und umschriebenen Regeln halten. Und er mag Choreos - wie wohl wir alle!
Der Clou: Dabei ist er durchaus bereit über gewisse inhaltliche Dinge hinwegzusehen, solange sie keine negativen Konsequenzen für Hannover 96 nach sich ziehen. Kunden, die auch noch mehr Geld kosten, als sie Einnahmen generieren…wer will das schon? So war es mit der Haarmann-Flagge, die erst dann nicht mehr toleriert werden konnte, als sich die Bild-Zeitung zunächst regional, später dann bundesweit daran festbiss und für etliche negative, markenschädigende Schlagzeilen sorgte. So ist es mit der Pyrotechnik gewesen, die immer höher sanktioniert worden ist und die Vereine zum Zahlen hoher Summen verpflichtete und ebenfalls zunehmend für negative Schlagzeilen sorgte. Würden wir in einem Zeitalter leben, in dem Pyrotechnik zum guten Stil im Stadion gehöre, dann würde Martin speziellen Freiraum dafür schaffen. Alles Spekulation, aber das ist meine persönliche Einschätzung. Solange es dem Zweck dient, ist alles erlaubt.
Die Denkweise von Kind ist meiner Meinung nach so simpel (im Sinne der Finalität), dass sie eigentlich sehr leicht zu durchschauen ist. Die Ultras bleiben ja nicht weg, weil ihnen die Freistöße vom Airport Hannover präsentiert werden. Und wenn das der Grund sein würde, dann könnte ich ihn nicht verstehen, denn schließlich gerade deswegen würden sie doch gebraucht werden, wenn es um die Einschränkung der Kommerzialisierung und Eventimisierung im Fußball geht. Nein, sie bleiben weg, weil Martin Kind mit einer absoluten Null-Toleranz und Null-Verständnis-Philosophie gegen sie vorgegangen ist. Weil sie unbequem waren und sich nicht immer an die geforderten Absprachen gehalten haben. Weil sie auch Fehler begangen haben, die in anderen Vereinen vielleicht noch zugunsten der als sehr wichtig angesehenen und wertgeschätzten Fankultur akzeptiert oder zumindest toleriert worden wären. Zumindest was das Kollektiv anbelangt, nicht aber (und das vollkommen zu Recht) das Individuum. Der letzte Satz ist mir besonders wichtig.
Doch nicht so im hochunternehmerischen Hannover. Denn es gibt bequemere Kunden, die nur darauf warten, ihren Platz in der sonnigen HDI-Arena einzunehmen. Die Ultras sind zu dieser Zeit schon medial sehr präsent - durch Pyrotechnik und Gewalt. Hier wird nicht differenziert, die Masse schluckt und verarbeitet es. So ist das halt ohne Lobby. Auch hier im beschaulichen Hannover geht alles im Rundumschlag - ganz oder gar nicht und vollkommen dem Ziel untergeordnet. Da reicht schon die einzige Gemeinsamkeit, dass man in einem Block zusammensteht, um Teil der großflächig angelegten Sanktionen zu werden. Kennen braucht man da eigentlich niemanden, das ist schon so inklusive. Sogar das Aussortieren wird delegiert und an die Fankurve oder den Fandachverband als Auftrag weitergegeben. Ein naiver und schlecht durchdachter Auftrag, der für keine Partei zu erfüllen ist. Doch jeder Dialog scheint nicht zu fruchten, schon allein die Sprache scheint zu weit auseinander zu sein. Bis zur Einstellung des Supports der Mannschaft. Ich möchte noch einmal betonen, dass Hannover 96 nach wie vor bundesweit beispiellos in der Vorgehensweise gegen seine eigenen Fans ist. Zumindest diesen Prozess des Geschäfts (wie im Video beschrieben) - so meine persönliche Meinung - hat Kind noch nicht antizipiert.
Kind arbeitet für Hannover 96 ehrenamtlich. Zur Not buttert er noch etwas dazu. Rund um die Uhr, immer erreichbar. Er hält seinen Kopf hin und macht niemanden anders für Dinge verantwortlich - egal, ob sie gut oder schlecht laufen. Verbunden mit der großen Vision, Hannover 96 langfristig zu einem stabilen und erfolgreichen Fußballunternehmen zu machen. Wir stehen strukturell (sehen wir mal von dem NLZ ab, das noch weit hinterherhinkt) und finanziell im Vergleich absolut exzellent da. Ich bin ihm dafür von ganzem Herzen dankbar und habe größten Respekt und Wertschätzung vor seiner Leistung.
Die Kultur aus der vorhandenen Kurve zu verdrängen, die Fankultur zu verdrängen, die aktiven Fans zu verdrängen und etwas vorzuleben, was in meinen Augen auch gesellschaftlich höchst grenzwertig ist, kann jedoch nicht das Nebenprodukt sein. Es kann nicht sein, dass Menschen, die so viel Liebe, Geld und Herzblut in diesen Verein geben und gegeben haben (egal ob über Monate oder Jahrzehnte hinweg), ihre Liebe und Verbundenheit so genommen wird. Es geht hier um viel mehr, als nur um den Erfolg eines Fußballunternehmens. Fußball vereint und trennt nicht und besitzt eine ganz wichtige gesellschaftliche Aufgabe. Statt Kollektivstrafen und Stigmatisierungen hätten Runde Tische, Fantreffen und intensive Gespräche mit Dachverband, Fanprojekt und Fangruppen organisiert werden können. Regelmäßig und ausdauernd. Mit dem ernsthaften Ziel, eine Lösung zu finden. Und nicht mit unrealistischen Zielen, wie die Selbstjustiz der Kurve oder des Dachverbands, die nicht umsetzbar ist.
Es mag sein, dass sich in Zukunft eine andere Fankultur in der Fankurve entwickeln wird. Es mag sein, dass sie ebenso lautstark vertreten sein wird, wie es die Ultras waren. Ich will es für unsere Mannschaft und für alle anderen im Stadion hoffen, die mit diesem Konflikt überhaupt nichts zu tun haben und jetzt genauso leidtragende sind! Für mich ist und war der Verein als Ganzes immer wichtiger, als die Summe der Einzelteile. Aber die Grenzen sind gesteckt - für Altes und Neues.
Es mag auch sein, dass ganz viele Fans der Roten diesen Konflikt wenig bis gar nicht verfolgt haben bzw. sich für ihn auch nicht sonderlich interessieren. Oder aber mit der Haltung von Kind konform gehen, mit ihm einer Meinung sind und die Ultras sowie die Rote Kurve im Stadion nicht vermissen. Alles vollkommen in Ordnung, aber die Haltung darf trotzdem nicht darüber hinwegtäuschen, was da passiert ist. Ich bin nach wie vor überzeugt (und hoffe es sehr), dass es zukünftig einen Weg mit Kind und Fanszene geben kann. Das wäre in meinen Augen der mit Abstand beste Weg für Hannover 96. Über Gespräche und organisierte Treffen mit gemeinsamen Erlaubnissen und Regeln. Mit Vertretern aus dem Verein, die sich für die Fankultur wirklich interessieren und eine Wertschätzung mitbringen. Kind sagt, dass er zuhören kann. Und das glaube ich ihm. Auch er wird aus diesem Konflikt gelernt haben, ebenso wie hoffentlich die Ultras im Umgang und im Verständnis mit ihm auch. Nicht jetzt und wohl auch nicht morgen, dafür ist alles viel zu verklemmt und verkeilt derzeit. Aber später.
Es ist ein langer Text geworden - Respekt vor denjeniegen, die ihn gelesen haben

. Aber ich konnte es für mich nicht kürzer fassen.